Chronik der Familie Mevissen

von Wilhelmine Steinberg

aus: Nettetaler Spätlese. Zeitung für ältere Menschen 20/ 2005


Die Familie "Derer von Mevißen" ist nicht nur eine der ältesten, sondern sicher auch eine der interessantesten und originellsten, die in Oberbocholt sesshaft waren. Urkundlich kann man ihre Geschichte 10 Generationen zurückverfolgen. Es würde zu weit führen alles zu berichten, was sich in vielen Jahrhunderten ereignete.

So wollen wir uns auf Wesentliches und Interessantes beschränken, was uns die jetzige Generation von ihren Vorfahren zu berichten wusste.

Der Großvater Quinn Jakob, 1849 geboren, heiratete die liebenswerte, tüchtige Anna Kempkes, geb. 1856, aus dem Rennekoven. Zwei Mädchen und der Stammhalter Jakob wurden ihnen geschenkt. Als der Junge geboren wurde, war der Vater bereits drei Monate tot. Natürlich war das sehr tragisch, da ein bäuerliches Anwesen doch einen ganzen Mann erfordert. Doch die tüchtige umsichtige Anna führte den Hof in jeder Hinsicht bestens weiter. Ganz erstaunlich war ihre Ruhe und Besonnenheit zu bewundern, die sie in allen gefahrvollen Situationen bewies. Als 1900 beim Einfahren des letzten Getreides der Hof durch Blitzschlag in Brand geriet, kam der 12jährige Jakob im kurzen Hemdchen die Treppe herunter, wo seine Mutter im Flur auf ihrer Aussteuerkiste saß und umsichtig die Löscharbeiten dirigierte. Das Wohnhaus war zum Glück verschont geblieben. Als der kleine Jakob aufgeregt fragte, was jetzt wohl zu tun sei, meinte sie ruhig:" Jong, du treckst dich jetz te ersch de Box an."

Der junge Jakob war beim Aufbau des Hofes schon eifrig bei der Sache, bewies Verantwortungsgefühl und wurde dadurch schon früh erwachsen. Im selben Jahr kaufte er schon allein seinen ersten Ochsen. Der erste Weltkrieg und vier Jahre an der Front ließen ihn zum Manne reifen.

Was sein Aussehen und Auftreten betraf, konnte man ihn getrost als "schneidigen Kerl" bezeichnen und zum begehrtesten Junggesellen von ganz Bocholt. Die heiratslustigen Damen der Umgebung umschwärmten ihn wie Motten das Licht. Doch holte er sich seine Frau Fine Strom aus Gützenrath. Noch auf der Hochzeit war in einem lustigen Gedicht von 20 Jungen Mädchen die Rede, die sich vergeblich bemüht hatten, den wilden Jakob zu bändigen.

Jakob, ein großer Pferdenarr und -kenner, zähmte gern unbändige Pferde, um sie dann mit Gewinn weiter zu verkaufen. Sein Freund und Kumpan, der Pferdehändler Hessen (Severin), unterstützte ihn dabei. Auf so einer Fahrt über die Dörfer lernte er seine spätere Frau kennen.

Nicht immer endete so eine Probefahrt mit wilden Pferden und zum Teil mit geliehenen Kutschen glücklich. Manches ging dabei zu Bruch. So auch seine Hochzeitsfahrt von Niederkrüchten nach Lobberich in einem geliehenen Landauer mit Glaskuppel, kutschiert von Holtmanns Hannes, der angewiesen war, das unruhige Pferd möglichst schneidig zu lenken. Am Brimgesberg bei Brüggen passierte es dann. Plötzlich versperrten mehrere Kleie-Ton-Wagen den Weg. An Bremsen war nicht mehr zu denken. Und so kam es, wie es kommen musste, man machte eine Bruchlandung und Kutsche, Braut und Hochzeitskleid und all dem Eingemachten sahen sich verstreut im Felde liegend wieder. Jakob war bei dem Aufprall mit dem Kopf durch die Glaskuppel gestoßen. Von seinem Strohhut, auch Kreissäge oder Anisplätzchen genannt, hing nur noch der Rand, einem Siegerkranz gleich, um seinen Hals. Man raffte sich auf und mit Hilfe der staunenden Ziegeleiarbeiter und viel Draht zum Flicken, wurde die Fahrt fortgesetzt. Die junge Frau Fine machte noch manche halsbrecherische Fahrt mit, doch ihre erfahrene Schwiegermutter hatte ihr beigebracht, vor einer Karambolage rechtzeitig abzuspringen.

1921 beim Tode der Mutter, seine beiden Schwestern waren bereits verstorben, war Jakob der einzige Namensträger. Doch seine Frau Fine schenkte ihm dafür 8 Kinder, 2 Söhne und 6 Mädchen. So war die Dynastie "Derer von Mevißen" wieder gesichert.

Bei einer so großen Familie fiel es Jakob nicht leicht, Namen und Daten zu behalten. So passierte es bei der letzten Tochter, dass er bei der Anmeldung auf dem Standesamt den Namen des Täuflings nicht mehr wusste. Er hatte zuvor zwei Kegelbrüder getroffen und im Verein mit ihnen das Kind und die Mutter hochleben lassen.

Der Name Hildegard war auch gänzlich neu in der Familie. Treuherzig versicherte Jakob dem Standesbeamten, die nächste Tochter würde bestimmt Christine heißen. Der Name Hildegard wurde am nächsten Tag nachgereicht.

In den zwanziger Jahren war es nicht leicht, sein Einkommen in der Landwirtschaft zu sichern. Neben Frühkartoffel- und Kappesanbau versuchte es Jakob mit der Schweinemast. Er baute ein zweistöckiges Schweinehaus, damals eine Sensation.

Eines Morgens hatte er 5 Schweine beim Metzger abzuliefern. Zwei fette Exemplare fielen beim Aufladen herunter und mussten wohl oder übel notgeschlachtet werden. Jakob sauste auf Botschen (Gr. 48) herunter, schnappte sein Messer und stach die Tiere ab. Auch das Blut wurde noch fachmännisch aufgefangen. Ein drittes Schwein, welches an den toten Kameraden herumschnüffelte, bekam von Jakob noch einen derart harten Tritt mit seinen dicken Botschen, dass es betäubt umfiel und auch notgeschlachtet werden musste. Schnell wurden noch zwei lebende Tiere zu den toten aufgeladen und mit dem schnellsten Pferd ging es ab nach Lobberich. Das Tötchen mit Blut baumelte an einem Leinenhaken der Karre. Jakob saß oben und hielt die Schweine auseinander. An der Sieg (früher Abfahrt nach Niederbocholt) passierte es dann. Das Karrenrad löste sich und die Karre kippte um. Erschreckt raste das Pferd in Richtung Lobberich. Die Schweine hatten Jakobs Beine eingeklemmt. Das Tötchen mit Blut wurde hochgeschleudert und ergoss sich über Mensch und Tiere.

Auf der Kempener Strasse stoppten zwei beherzte Männer das wild gewordene Pferd. Als man Jakob aus seiner verzwickten Lage befreite, purzelten drei tote und zwei lebende Schweine und der arme Jakob blutüberströmt auf die Strasse. Von dem grässlichen Anblick zu Tode erschrocken stürzten neugierige Frauen zurück in ihre Häuser. In Windeseile verbreitete sich in Lobberich die Nachricht: "Mevißen Jakob legt in er Blood op de Stroat". Doch als Jakob der Unverwüstliche, sich von seinem Schreck erholt hatte" rappelte er sich auf und meinte schmunzelnd: "Et is doch nix passiert!" Nur der Metzger war leider sauer, weil das Blut fehlte, das er ja schließlich für die Blutwurst brauchte. So endete die verrückte Fahrt doch noch einigermaßen glimpflich.

Der letzte Ausflug in die Hinsbecker Heide 1934, erstmalig mit neuem Traktor, für desssen Finanzierung die Pferde verkauft wurden
Der letzte Ausflug in die Hinsbecker Heide 1937 oder38, diesmal  mit neuem Traktor,
die Pferde mussten verkauft wurden um den Traktor zu finanzieren
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Trotz schwieriger Zeiten blieb Jakob ein Optimist. Seine Frohnatur ließ ihn manchen Rückschlag bestens überstehen. Wie ein kleiner Junge war er stets zu allerlei Streichen aufgelegt. Besonders im Kegelclub "Rechter Bauer" ging es dank seines aus allen Nähten platzendem Lebensüberschwangs immer hoch her. Er sprang sozusagen über Tische und Bänke und wurde berühmt für sein großes "Bauernkegeln" mit 50 Kugeln 50 Bauern hintereinander zu treffen. Wetten für oder gegen ihn wurden abgeschlossen und auch mancher Streit in bester Stimmung beigelegt ebenso natürlich auch neue Streiche ausgeheckt. Auch die hohe Geistlichkeit wurde dabei nicht verschont.

Eines Tages lud man die Kapläne Lücker und Heßler zur Jagd ein - damals fast ein Unding. Bei van der Beek wurden die Herren zünftig eingekleidet und dann ging's auf zum großen Halali. Kaplan Lücker erhielt eine Flinte von Jakob mit extra stark geladenen Patronen. Beim ersten Schuss muss er wohl beide Läufe gleichzeitig abgeschossen haben. Es traf ihn ein Schlag, als hätte ihn ein Pferd getreten. Die Frühmesse anderentags soll noch kürzer als sonst ausgefallen sein. Kaplan Heßler dagegen, als ehemaliger Offizier, schoss ein Kaninchen. Führwahr das war ein fürstliches Jagen - von Weihrauch bewölkt!

Während Jakob sich als tüchtiger Landwirt und fröhlicher Kumpan für gesellige Stunden erwies, muss die vielseitige Tätigkeit seiner Frau Fine in Haus, Hof, Garten und Kinderstube rühmlich erwähnt werden. Als frühere Junglehrerin brachte sie alle Voraussetzungen für ihre spätere Rolle als Bäuerin, Hausfrau und Mutter mit. Mit ihren acht Kindern konnte sie fast eine eigene Zwergschule errichten. Tatkräftig und resolut meisterte sie jede Situation. Ärgern tat sie sich nur, wenn es ihr in der Kirche schlecht wurde, weil alle Freundinnen dann wussten, dass wieder was Kleines unterwegs war.

Eines Tages, als die ganze Belegschaft des Hofes beim Kartoffelsortieren in der Scheune beschäftigt war, ging im Haus, wo Fine allein hantierte, ein Schuss los. Als alle ängstlich ins Haus stürzten, hatte sie seelenruhig einen Schuss in den Kirschbaum, geschickt, um die naschenden Vögel zu vertreiben. Man brauchte sich nicht zu wundern, hatte sie doch schon früh ihren Vater zur Jagd begleitet.

Neben ihren vielen Pflichten erlebte sie auch manche gesellige Stunde im Kreise ihrer Freundinnen und Nachbarinnen. Man traf sich beim Kaffekränzchen, beim Kegeln und bei kleinen Ausflügen. Mit einem Mann wie Jakob Mevißen verheiratet zusein, ließ sowieso keine Langeweile aufkommen. Da Nachbarschaftspflege in Bocholt und Umgebung stets groß geschrieben wurde, kam man 1935 auf die Idee, noch mal ein richtiges Schützenfest zu feiern. Jakob Mevißen brachte es fertig am Tage vor dem Vogelschuss Ludwig Zerres vom Dahlhof zum Eintritt in die Josefbruderschaft zu bewegen, Junggeselle und sehr begütert hatte man ihn schon vorher zum König auserkoren. Als er beim letzten Schuss zögerte, hielt sein Nachbar Hannes die Flinte fest und befahl: "Wellst du wohl scheete!" So wurde "Ohme Ludwig", wie man ihn nannte, ein spendabler und vergnügter König und sollte unangefochten Ludwig 1. bleiben. Bei seiner Beerdigung waren natürlich alle Schützen samt Kapelle versammelt. Als der Sarg über die Diele auf den Hof getragen wurde, spielte man zwar gedämpft ein letztes Mal: "Seht, da kommt der König!" Da König Ludwig nach seinem Schlaganfall immer noch etwas sagen wollte, legte der witzige, luschige Jakob Mevißen in seiner Ansprache so aus, als hätte Ludwig sagen wollen, die Bruderschaft solle auf seine Kosten noch mal gut leben. Das tat man dann auch und nicht zu knapp ließ man König Ludwig bei "de Mamm" (Lokal Zanders) viele, viele Male hochleben. Sehr zum Leidwesen der Erben.

Nach einem reich erfüllten Leben starb Jakob 1955. Er erlebte zum Glück noch die Geburt von 6 Enkelkindern. Doch war sein Tod ein harter Schlag für die Großfamilie. Auf seiner letzten Fahrt vom Hof zur Kirche scheute das Pferd und galoppierte ins Feld. Doch der Kutscher hatte es bald wieder unter Kontrolle. Bei all der Trauer musste die betende Begleitung heimlich schmunzeln und meinte "typisch Mevißen Jakob! "

Mutter Fine war noch 14 Jahre der Mittelpunkt der Familie und konnte noch 29 der späteren 33 Enkelkinder wiegen.

Ihre 6 Töchter, nach bester Erziehung und Vorbild der Mutter, entwickelten sich zu tüchtigen Frauen und haben ihr Leben in jeder Weise gemeistert.

Sohn Jakob, nicht nur als Ratsmitglied, sondern auch als tüchtiger, unternehmerischer Landwirt bekannt, brachte den Hof seiner Vorväter trotz sehr schwieriger Zeiten zum weiteren Blühen. Augusts Frau Christel, das zierliche, quirlige, energiegeladene Persönchen, hat sich als ideale Gefährtin ihres Mannes erwiesen. Sie schenkte 2 Söhnen und 2 Töchtern das Leben. Ein schweres Unglück fesselte Hanna Mevißen an den Rollstuhl. Doch Mut und Kraft ließen sie nicht verzagen und dank ihres liebenswerten Wesens zum Mittelpunkt und Vorbild der Großfamilie werden.

Möge der Herrgott ihnen allen noch lange gewogen bleiben.


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