Geburten anno dazumal

von Wilhelmine Steinberg

aus: Nettetaler Spätlese Dezember 2001


Ein Mensch erblickt das Licht der Welt
Doch oft hat sich herausgestellt,
nach manchem trüb verbrachten Jahr,
dass dies der einz'ge Lichtblick war. (Eugen Roth)

Wir wollen hoffen, dass der hintergründige Humor Engen Roth's sich nicht allzu oft im Leben bewahrheitet.

Die Geburt eines neuen Erdenbürgers stellte fast immer ein frohes Ereignis in der Familie dar. Früher gab es ausschließlich Hausgeburten unter Mithilfe einer Hebamme. In Lobberich wirkte schon seit 1810 eine berufsmäßige Hebamme, auch gab es schon eine ärztliche Versorgung, die aber nur im äußersten Notfall in Anspruch genommen wurde. Als es noch keine berufsmäßigen Hebammen gab, nannte man sie auch weise Frauen oder Wehmütter. Sie arbeiteten ausschließlich mit Naturhellmitteln, Tees und Kräutern usw., um der werdenden Mutter in ihrer Not beizustehen. Man verabreichte etwas gegen Schmerzen, zu Anregung der Wehen oder auch später zur Beruhigung.

Im unaufgeklärten Mittelalter wurden sie oft verfolgt und als Hexen verbrannt.
Als Unwissenheit und Aberglaube die Menschen noch plagte, sagte man der werdenden Mutter oft: "Verkiek dich maar nett", denn das Ungeborene könnte Schaden erleiden. Beim Erschrecken vor einer huschenden Maus, beim Anblick einer Behinderung oder einer Brandes glaubte man, das werdende Kind könnte später in irgend einer Form ein Mal davon tragen. Ähnlich erging es mir bei meiner ersten Schwangerschaft, als die Amerikaner gerade einmarschiert waren und drei Wochen lang eine Kompanie schwarzer Soldaten vor unserem Haus lagen. Ein Familienfreund meinte bei seinem Besuch schmunzelnd: "Verkiek Dich maar net in ´ne Neger, dat dat Kenk net schwort wörd!"

Unwissenheit und mangelnde Hygiene führten oft zu großer Säuglingssterblichkeit. Das wurde durch die vielen Geburten wieder ausgeglichen. Familien mit 4 - 8 Kindern und noch mehr war die Norm. Man lebte nach dem strengen Grundsatz: Lieber eins auf dem Kissen als auf dem Gewissen!

Tauchte die Hebamme auf - in unseren Breiten auch Kenkestant genannt - um mit der werdenden Mutter Verschiedenes zu besprechen, wussten die älteren Geschwister, obwohl sie in dem Sinne gar nicht aufgeklärt waren, was die Glocke geschlagen hatte. Man flüsterte einander zu: "Kenkestant ist da, ich glaube, wir kriegen wieder ein Kind". Über nähere Einzelheiten wurden die Kinder früher nicht aufgeklärt. Darüber sprach man nicht. Das war unanständig.

Das Wort "unanständig" nehme ich zum Anlass, ans meiner eigenen Erfahrung eine kleine Episode anzuführen. Meine Mutter ertappte mich, als ich als kleines Mädchen in Meyer's Lexikon studierte, um etwas über das dunkle Geheimnis des menschlichen Lebens zu erfahren. Mit den Worten: "So etwas Unanständiges liest man nicht" wurde mir das Buch entrissen und eingeschlossen. Zusätzlich als Quittung für meine Wissbegierde empfing ich noch ein paar Ohrfeigen. So streng waren da die Bräuche! Die Duplizität der Fälle ereignete sich, als ich meinen jüngsten Sohn mit demselben Lexikon fand und auf meine Frage, was er da lese, die Antwort bekam: "Ich lese das Werden des Menschen." Er bekam keine Ohrfeigen! Eine Generation weiter und schon waren Eltern froh, wenn ihre Kinder auf faire Weise aufgeklärt wurden.

Näherte sich endlich die ängstlich erwartete Stunde der Geburt, traten allerhand Helferinnen auf den Plan, uni der werdenden Mutter in ihrer schweren Stunde beizustehen.

Die älteren Kinder wurden auf die ortsansässigen Verwandten verteilt. Auch übernahm ein resolutes Familienmitglied das Zepter im Haus. War niemand davon zu Stelle, übernahm die gute Nachbarschaft diese Funktion, die sowieso die Wäsche wusch Lind auch andere Hilfestellung leistete. Meist teilten sich zwei Frauen die täglichen Pflichten. Während eine das Neugeborene badete, trocken legte und wickelte (früher formte ein langer Wickel das Kind zu einer bewegungslosen Puppe), nahm eine andere die Säuglingswäsche mit nach Hause, um sie anderentags sauber gewaschen und gebügelt zurückzubringen.

Da eine Hebamme unmöglich alle Wöchnerinnen eines Ortes versorgen konnte, war die tätige Nachbarschaftshilfe ein wahrer Segen und eine löbliche Einrichtung, die besonders in ländlichen Kreisen ausgeführt wurde. Dafür wurden sie auch später zum Kiekkaffee' eingeladen.
Früher blieben Wöchnerinnen länger als heute im Bett liegen. Das bedeutete für sie kleine Ferien. Sie wurden umhegt und gepflegt und konnten sich endlich einmal ausruhen, Viele Mutter starben früher an Kindbettfieber, was auf mangelnde Hygiene zurückzuführen war. Der Wiener Arzt Dr. Semmelweiss erkannte die Ursache des Übels und setzte sich mit all seinem Wissen und Können für Gegenmaßnahmen ein.

Vor 1800 musste der Säugling schon am 1. Tag dem Pastor vorgeführt werden, der darin das Geschlecht feststellte und das Kind ins Kirchenbuch eintrug. Die Paten des Kindes mussten anwesend sein. In napoleonischer Besatzungszeit musste der neue Erdenbürger am Standesamt gemeldet werden. Spätestens nach 2 - 3 Tagen wurde der Säugling getauft. Was hätte aus dem armen Seelchen werden sollen, wäre es vorzeitig abgerufen worden.
Die Taufe ist mindestens seit dem Jahre 500 bezeugt. Die Kirche erklärte seit dein Konzil 813 die Taufpaten als gemeinverbindlich. Sie sollten die christliche Erziehung des Kindes überwachen und im Todesfall der leiblichen Eltern deren Stelle einnehmen. Das war also sowohl eine christliche als auch soziale Vorsorgeregelung,
Die Taufpaten wurden meist aus der näheren Verwandtschaft ausgesucht. Hauptsächlich die Eltern der Mütter wurden beim ersten Kind als Paten gewünscht. Unbedingt hatte der Täufling den Namen des Paten zu tragen, auch wenn es den Eltern oft nicht passte. Meist wählte man den Namen eines Heiligen, der dein Kind als Vorbild dienen sollte.

Im Gegensatz zu heute klangen in früheren Zeiten die Namen recht altmodisch, zum Beispiel:

  • Johannes - Joan, Jan

  • Andreas - Dreis

  • Albert - Meves

  • Anton - Thönes

  • Agnes - Nesgen, Netgen

  • Katharina - Trienken

  • Christine - Stienken

  • Gertrud - Drutgen

Wurde ein Knäblein oder sogenannter Stammhalter geboren, war die Freude oder sogar der Jubel größer, als wenn's NUR ein Mädchen war - sehr zum Leidwesen von uns Frauen. Gott sei Dank hat sich das geändert.

Die männlichen Kinder wurden mit blauen, die weiblichen mit rosa Attributen ihrer Erstlingskleider ausgestattet. Das Taufkleid ererbte sich oft über Generationen. Wir besaßen eins, das aus dem Brautkleid meiner Vorfahren (weiße Seide) gearbeitet war. Es ist im Museum Krefeld-Linn gelandet.
Die Paten trugen das Kind zur Taufe. Kleine Kinder aus der Verwandtschaft trugen stolz die Taufkerze. Bei der Taufe als Freudenfest gab es meist ein großes Geschmause, wobei die Hebamme den Paten und Gästen das Kind präsentierte und dann reichlich bedacht wurde.
Noch zu meiner Zeit musste eine Wöchnerin, ehe sie wieder in die Öffentlichkeit trat, von der Kirche ausgesegnet werden. Man fragt, sich, warum und wieso sie von etwas gereinigt werden sollte. da sie doch das Kostbarste, was es gibt - nämlich neues Leben - schenkte, oft unter Einsatz ihres Lebens. In Krankenhäusern geht man heute dazu über, die Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm zu segnen.

Im Wandel der Zeit hat sich vieles geändert. Durch Auflösung der Großfamilie ist die Hausgeburt zur Seltenheit geworden. Im Krankenhaus wird der Wöchnerin jegliche Art Hilfe und Unterstützung gewährt. Bei Komplikationen ist sofort der Facharzt zur Stelle. Alles ist bequemer, einfacher, hygienischer geworden. Die lästige Wäscherei wird durch Wegwerfwindeln abgelöst. Alle äußeren Anwendungen für das Neugeborene Kind aufs Bequemste eingerichtet.
Die neue Zeit mit ihren modernen Errungenschaften mag noch so angenehm sein - eins hat sie mit der Vergangenheit gemeinsam: Bis aus dem Säugling ein fertiger Mensch gewachsen ist, bedarf es besonders von der Mutter der selben Liebe, Hingabe und Fürsorge, das vorsichtige Lenken der kleinen Seele in richtige Bahnen, damit es am guten Vorbild der Eltern erstarke und ein tüchtiges und frohes Mitglied der Gesellschaft werde.


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