Johannes Hessen -
Philosoph und Theologe aus Lobberich


VON HORST KASSLER


Johannes Hessen

Signatur Hessen

Dieser Aufsatz möchte auf einen bemerkenswerten, wenn nicht gar bedeutenden Mann unserer Zeit hinweisen, der in Lobberich geboren, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen ist und somit als Sohn der heutigen Stadt Nettetal gelten darf. Es handelt sich um den 1971 verstorbenen Theologen und Philosophen Johannes Hessen, der von 1921 bis fast zu seinem Tode als Professor für Philosophie an der Universität Köln gelehrt hat. Im Laufe seines 82jährigen Lebens hat er um die 55 Bücher, z. T. in mehreren Auflagen, veröffentlicht; fast 20 seiner Werke sind in fremde Sprachen übersetzt worden. Ihm wurden zwei Festschriften gewidmet zum 60. Geburtstag und zum 80. Geburtstag.Wer war dieser Mann, der bei seinen kirchlichen Vorgesetzten mehrmals in Ungnade fiel, dem aber auch die Hochachtung kirchlicher Persönlichkeiten galt; der von den Nationalsozialisten Lebt- und Schreibverbot erhielt und dem trotzdem nach dem Kriege viele Jahre lang die Wiedergutmachung verweigert wurde; den Männer wie Konrad Adenauer, Romano Guardini, Karl Jaspers für wert befanden, ihn nach dem 2. Weltkrieg in seinem Kampf um sein Recht zu unterstützen; kurzum: dessen Leben zugleich ein Stück deutscher Geschichte, und teilweise eines ihrer dunkelsten und unerfreulichsten Kapitel widerspiegelt?

Sein Lebensweg

Johannes Hessen wurde am 14. September 1889 als ältestes von 7 Kindern in Lobberich-Dyck geboren. Sein Vater besaß dort, wie bereits seine Vorfahren, einen Bauernhof, den er jedoch in fränkischer Bauweise erneuerte und der laut Hessen 'in der damaligen Zeit zu den schönsten Höfen am Niederrhein zählte. Auch seine Mutter stammte aus dieser Gegend, von einem Bauernhof in Dornbusch. In Dyck ist Johannes Hessen von 1895 an zur Volksschule gegangen. Nach der Volksschulzeit kam er auf die Rektoratsschule in Lobberich ("Studentenschule" nannten sie damals die Lobbericher), das heutige Werner-Jaeger-Gymnasium. Stolz berichtete Hessen, daß aus dieser Schule 6 Universitätsprofessoren hervorgegangen sind, darunter vor allem der berühmt gewordene klassische Philologe Werner Jaeger, der später in der Nazizeit nach Amerika emigrierte. Wie aus Hessens Erinnerungen aus jener Zeit hervorgehtl (1), haben ihm außer der niederrheinischen Landschaft, die er vorzüglich und sprachlich eindrucksvoll charakterisiert hat, Persönlichkeiten aus seiner Kindheit geprägt: so vor allem die Mutter, die in hartem Berufsleben als Bäuerin anstelle des früh verstorbenen Vaters ihren "Mann" stehen mußte; in der Rektoratsschule waren es 3 Männer, die ihn beeindruckt hatten, und zwar der damalige Geistliche Rektor und Leiter der Schule, Heinrich Hölker ("ein ausgezeichneter und allgemein geschätzter Schulmann") sowie die Lehrer Lepper, von dessen tiefer und echter Frömmigkeit Hessen mit Ehrfurcht spricht, und Budde, "der stets treffende Ausdrücke zur Verfügung (hatte), wenn es galt, Dummheit oder Faulheit anzuprangern". Die Hoffnung der Mutter, der Älteste würde den Hof übernehmen, erfüllte sich nicht; insbesondere der Besuch des Meßopfers hatte in ihm den Wunsch reifen lassen, Priester zu werden.

Die weitere Entwicklung Hessens zum Philosophieprofessor in Köln soll nur kurz geschildert werden, da sie sich weitgehend außerhalb unserer Heimat vollziehen mußte. Hessen blieb aber seiner niederrheinischen Heimat bis ins hohe Alter eng verbunden. In regelmäßigen Abständen besuchte er den elterlichen Hof, den Hessenhof in Dyck, den heute sein einziger überlebender Neffe besitzt.

Nach der Untertertia mußte Hessen die Rektoratsschule in Lobberich verlassen, weil hier der weitere Weg bis zum Abitur nicht möglich war. Er ging auf die Bischöfliche Studienanstalt "Gaesdonk" bei Goch, studierte dann in Münster Theologie und Philosophie und empfing 1914 im Dom zu Münster die Priesterweihe. Am folgenden Sonntag feierte er in Lobberich die Primiz. An diesem Tag hat er wohl kaum geahnt, daß er 50 Jahre später in der Pfarrkirche St. Sebastian in Lobberich sein goldenes Priesterjubiläum feiern würde. Hessen war dann bis 1917 Seelsorger in Duisburg und später in Lette bei Coesfeld.

Im Winter 1918/19 fand die für seine weitere Laufbahn als Philosoph entscheidende Begegnung mit Max Scheler statt, dem Kölner Ordinarius für Philosophie und Verfasser des wegweisenden Buches der modernen Wertphilosophie "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik". Hessen habilitierte sich auch bei Scheler und erhielt im Jahre 1921 die venia legendl für das Fach Philosophie. Damit begann eine akademische Laufbahn, die reich an wissenschaftlichen Ergebnissen war und die ihn immer wieder durch das große Echo seiner Vorlesungen bei der Studentenschaft beglückte - didaktisch dürfte er wohl nur von wenigen übertroffen worden sein. Er blieb zeitlebens "Nichtordinatius", d. h. er erlangte nie einen ordentlichen Lehrstuhl. Doch davon später.

Hessens Philosophie, sein Glaube an geistige Werte und an die Bestimmung des Menschen zur Verwirklichung dieser Werte, sein Bekennermut und seine unverhohlene Abneigung gegenüber einer Weltanschauung, die das "Vital-Biologische" zur obersten Richtschnur erhob, machten ihn nach 1933 schnell bei den Nazis unbeliebt. 1940 wurde ihm nicht nur die venia legendl entzogen, auch das Gehalt zahlte man ihm nicht mehr. Drei seiner Bücher wurden eingestampft. Schließlich erhielt er Redeverbot, nachdem man ihm mit dem Konzentrationslager gedroht hatte. 1943 zog er sich in sein Haus im Sichengebirge zurück und schrieb dort sein dreibändiges "Lehrbuch der Philosophie", das er nach dem Krieg veröffentlichte und das nach Ansicht eines seiner Schüler, des in Schwalmtal lebenden Oberstudiendirektors und Geistlichen Dr. Besgen, das "zur Zeit beste Lehrbuch der Philosophie (ist), das jungen Studenten zur Verfügung steht".

Wer nun glaubte, Hessen würde als Verfolgter des Nazireglines, der auch gesundheitlich unter diesen Verfolgungen gelitten hatte, einer der ersten sein, dem bitteres Unrecht wiedergutgemacht würde und der jetzt vielleicht sogar einen ordentlichen Lehrstuhl erhielte, mußte sich getäuscht sehen. Auch Adenauer war wohl dieses Glaubens, als er Hessen im Sommer 1945 folgenden Brief schrieb: "Sehr geehrter Herr Professor! Ich empfehle Ihnen, wenn Sie in ihrer Stellung und Bezügen an der Universität Köln aus politischen Gründen geschädigt worden sind, einen Antrag auf Wiedergutmachung an das Kuratorium zu stellen. Ich bin gerne bereit, den Antrag mitzunehmen. Ich fahre morgen früh um 7 Uhr 30. Ergebenst Adenauer."

Aber die Entscheidung über den Antrag, maßgeblich beeinflußt von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln, wurde immer wieder hinausgezögert mit der Begründung, daß man eine allgemeine Regelung abwarten müsse. 1952 wandten sich die 5 Professoren Guardini, Pfeil, Wenzl, Heiler und Leese in einem gemeinsamen Schreiben an den Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, den Rektor der Universität Köln und den Dekan der Philosophischen Fakultät mit der Bitte, ein persönliches Extraordinarlat für Hessen einzurichten. Sie wiesen darauf hin, daß es sich bei Hessen um einen "Gelehrten von Rang handelt, der der innerdeutschen wie der außerdeutschen Achtung sicher" sei. Die Verweigerung der Rehabilltation für Hessen bedeute "im Grunde genommen also eine Fortführung der Bestrafung durch die Nationalsozialisten und damit ein doppeltes Unrecht".

Als auch hierauf keine Reaktion erfolgte, beschloß Hessen auf Rat von Professor Heiler, seine Sache an die Uffentlichkeit zu bringen. Dies geschah mit Hilfe eines Freundes, der Hessens Schrift "Universitätsreform" einen Anhang mit folgendem Titel beifügte: "Neonazismus an deutscher Universität? Aktenmäßige Darstellung der Behandlung eines Naziopfers seitens der Universität Köln, von Fabrikdirektor 1. R. Scherer, Bensberg."

Der Druck der öffentlichen Meinung wurde nun so stark, daß die amtlichen Stellen handeln mußten. Der Baseler Philosoph Karl Jaspers, ebenfalls Verfolgter des Naziregimes und damals bereits Philosoph von Weltruf, schrieb an Hessen: "Ich erkläre Ihnen, daß ich der Eingabe deutscher Professoren (Leese, Heller, Guardini u. a.) völlig zustimme. Hätte sie mir vorgelegen, so würde ich sie gern auch unterzeichnet haben."

Im Februar 1954, also fast 9 Jahre nach Kriegsende, kam dann endlich der "Wiedergutmachungsbescheid". In Erinnerung an diese 9 Jahre zitierte Hessen später Goethes ironisch-bitterere Lebenserfahrung:

"Obers Niederträchtige niemand sich beklage, Denn es ist das Mächtige, was man Dir auch sage."

Mögliche Gründe für die Verweigerung der Wiedergutmachung

Dieser Vorgang, daß nämlich einem Verfolgten des Naziregimes die Wiedergutmachung verweigert wird, obwohl sich namhafte Lehrstuhlinhaber und Philosophen für ihn eingesetzt haben, ist so unbegreiflich, daß die Interpretation, die Hessen selbst gegeben hat, nämlich Neonazismus an deutschen Universitäten nach dem Kriege habe seine Rehabilltation verhindert, zu vereinfachend und zu polemisch klingt, als daß sie als alleinige Erklärung dienen kann. Vielmehr müssen der Gegenstand und die Art seines Philosophierens sowie seine Persönlichkeit als Erklärung mit herangezogen werden.

(1) Im "Ziegenfuß", ein führendes Philosophenlexikon, heißt es: "Hessen sieht sich als katholischer Theologe im gewissen Gegensatz zu der offiziellen katholischen Philosophie und Theologie, sofern er sich im Unterschied von der dogmatisch gebundenen thomistischen Philosophie um eine voraussetzungslose wissenschaftliche Philosophie bemüht." Dies näher erläutert: Hessen steht in seinem Philosophieren in der Linie Plato - Augustinus, während die meisten katholischen Denker, zumindest seiner Zeit, von Thomas von Aquin, d. h. von der Scholastik, ausgingen. Für Hessen ist diese Wahl der philosophischen Vorbilder für sein zentrales Anliegen, die gedankliche Vervollkommnung der modernen Wertphilosophie, von großer Bedeutung gewesen.

Nach Plato sind die "Ideen" die Urbilder oder Vorbilder der Dinge, wie sie uns in der Welt erscheinen, z. B. der Baum oder die Gerechtigkeit. Die "Urbilder" sind die Welt des wahrhaft Seienden. Die Dinge sind als Abbilder der Ideen von "geringerer" Wirklichkeit, in mehr oder minder starkem Maße unvollkommen, Sie verdanken ihr Sein der Teilhabe (methexis) an den Ideen. Indem die Ideen zugleich Vorbilder der Dinge sind, streben diese danach, den "Ideen" ähnlich, so vollkommen wie möglich zu werden (diese Welt des idealen Seins wird von der modernen Wertphilosophie auch heute noch für die Werte, wie z. B. Gerechtigkeit, postuliert).

Wie ist aber nach Plato eine Erkenntnis möglich, die Anspruch auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit erheben will, wenn wir nur die Abbilder der einzelnen Dinge ,und nicht die Idee, das einzig Wirkliche und Wahre sehen; wenn - anders ausgedrückt - die Ideenwelt und die Erscheinungswelt, d. h. die Welt des idealen Seins und die Welt des realen Seins völlig auseinanderfallen, somit zwei verschiedene Welten sind? Plato antwortet darauf mit der berührnten Anamnesislehre: Der Mensch hat die Urbilder der Dinge vor seinem zeitlichen Dasein geschaut. Erkennen der Dinge, z. B. des Baumes oder der Gerechtigkeit, heißt somit Wiedererinnerung. (Dagegen hat die moderne Wertphilosophie eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe auf andere Weise das Bestehen und die Erkenntnismöglichkeit einer idealen Seinswelt, soweit sie die Wertsphäre betrifft, aufgezeigt werden kann: die Phänomenologie, s. unten.)

Augustinus, der die platonische Philosophie im christlichen Sinne modifiziert hat, verankert die Idee in einem absoluten Geist, der aber im Unterschied zu Plotin, seinem geistigen Inspirator, nicht die Vernunft ist, sondern der theistische Gott des Christentums. Die Ideen sind für ihn nicht selbständige Wesenheiten wie bei Plato, sondern Schöpfergedanken Gottes. Mittels der Erleuchtung schaut die menschliche Seele die Ideen; sie werden von Gott eingestrahlt (Illuminationstheorie).

Aristoteles und der auf ihn fußende Thomas von Aquin verlegten die platonischaugustinische Ideenwelt in die empirische Wirklichkeit, Der schroffe Dualismus von Erfahrungswelt und Ideenwelt wird damit aufgehoben. Erkennen bedeutet für Aristoteles wie für Thomas nicht Wiedererinnerung der in einem vorweltlichen Dasein geschauten Ideen (Plato), sondern geistiges Abbilden der Gegenstände. Dieses Abbilden oder Nachbilden ist möglich, weil die Wirklichkeit eine rationale, d. h. vernünftige Struktur, aufweist. In unserem Bewußtsein spiegelt sich die objektive, eben die vernünftige Ordnung der Dinge wider. Das Denken richtet sich nach den Gegenständen. Bei Kant später ist es umgekehrt: Die Gegenstände richten sich nach dem Denken, stark vereinfachend ausgedrückt.

Die aristotelisch-thomistische Erkenntnistheorie wie auch die Metaphysik wurden ob ihrer Geschlossenheit und Plausibilität zur herrschenden Philosophie des Mittelalters. Ist ihr Grundgedanke doch auch faszinierend: Die Vernunft als ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip. Seitdem hat sich eine Abwertung der Vernunft als objektives Strukturmerkmal der Wirklichkeit vollzogen; in heutiger herrschender Sicht hat sie nur noch instrumentalen Charakter: vernünftig heißt, einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen (Horkhelmer) .

Hessen wollte im Grunde die thomistische Philosophie nur fortentwickelt wissen, aber nicht verdammen, sah er doch in Thomas sogar ein Vorbild für die christlichen Philosophen unserer Tage. Nur, und diese berechtigte Frage übersahen seine Gegner, kehrte Thomas heute zurück, würde er eine Erkenntnislehre und Metaphysik schreiben, wie er sie uns überliefert hat, oder würde er in seinem Streben zur Synthese neue Erkenntnisse berücksichtigen?

Hessens positive Kritik richtet sich vor allem dagegen, daß bei Thomas die Wertordnung nicht als eine von der Seinsordnung verschiedene Ordnung erkannt worden ist. Indem Aristoteles wie auch Thomas die Ideenwelt Platos und Augustinus' in die konkrete Wirklichkeit hineinverlegten, beinhaltet die Wirklichkeit nicht nur die Idee von Gegenständen, sondern auch von Werten. Seinswelt und Wertwelt sind deshalb in der Scholastik identisch - eine Betrachtung, die die "drei bedeutendsten modernen Wertphilosophen" (Wittmann), Hartmann, Scheler und Hessen entschieden bestreiten. Da nach der Scholastik Sein zugleich Wert ist, ist es als ein "Bonum" erstrebenswert: omne ens est bonum, was besagen will, daß alles Seiende als Selendes auch gut ist.

Aber auch in anderer Hinsicht unterscheiden sich die modernen Wertphilosophen wi e auch Hessen von der Scholastik. Wie erwähnt, werden bei Augustin die "eingestrahlten Ideen" unmittelbar vom Geist im Akt des Schauens erfaßt. Hessen versuchte nachzuweisen, daß dies einer intuitiv-mystischen Gotteserkenntnis gleichkommt. Die intuitive Erkenntnis ist aber für die modernen Wertphilosophen wie Scheler, Hessen u. a. eine Erkenntnisart, ohne die Werte nicht erkannt werden können und die der Scholastik, für die es im philosophischen Bereich nur das diskursive Erkennen gibt, völlig fremd ist.

Augustin gewinnt für Hessen in der gedanklichen Ausarbeitung seiner Religionsphilosophie große Bedeutung. Ist doch Augustin der Philosoph gewesen, der "alles im Blick auf Gott denkt" (Jaspers), für den die Dinge, die in der Welt vorkommen, kein selbständiges Interesse haben, so wie es im folgenden Satz Augustins zum Ausdruck kommt: "Und die Menschen gehen und bewundern die Höhe der Gebirge, die gewaltigen Wogen des Meeres, den breiten Fluß der Ströme, den Umfang des Ozeans und den Umlauf der Gestirne, auf sich selbst aber achten sie nicht." Dies sind Reflexionen, die der Scholastik, die auf die Erklärung und Erkenntnis der Dinge in der Welt große Mühe verwandt und ihr eine eigenständige Betrachtung gewidmet hat, ebenfalls fernstehen. Für die Scholastik ist der Mensch nicht nur Seele, sondern hat auch einen Leib, der als Wesenstell des Menschen anerkannt wird, eberiso wie die Dinge nicht nur Abbilder oder Ideen eines absoluten Geistes, sondern Träger ihres eigenen Seins sind.

Dazu kommt, daß Hessen nicht nur auf platonischem und augustinischem Denken gründet, sondern auch kantisches Gedankengut verwendet - besonders in der Ethik, vor allem aber im Zusammenhang mit Kants grundlegender Unterscheidung der verschiedenen Ordnungen des Logischen, des Seins und des Sittlichen. Den Rückgriff auf Erkenntnisse des wohl größten Philosophen der Neuzeit, Kant, stempelte Hessen in den Augen seines früheren Philosophielehrers Dörholt zu einem "von kantlanischem Gifttrank berauschten Modernen". Hessen sah jedoch in dem differenzierenden Ansatz Kants eine Möglichkeit, die Unterschiede zwischen augustinischer und thomistischer Philosophie wenn nicht aufzuheben, so doch zu versöhnen. Für seine Zeitgenossen waren aber diese Unterschiede so schwerwiegend, daß katholische Philosophen, die nicht die in der katholischen Kirche herrschende Philosophie, eben die thomistische, vertraten, es in jeglicher Beziehung schwer hatten.


Lobberich-Dyck. Hessenhof

So verwundert es nicht, daß Hessen durch die Kritik an Thomas für viele katholische Denker und Würdenträger als "Modernist" galt. Die katholische Kirche sah besonders vor dem Ersten Weltkrieg in dem "Modernismus" eine so große Gefahr, daß sie eine Zeitlang alle Priester den Antimodernisteneid schwören ließ. Anliegen der gemäßigten "Modernisten" war es, die "religiösen Ewigkeitswerte" der katholischen Dogmen ohne ihre intellektualistische Formung und Ausprägung herauszuarbeiten. Zur "intellektualistischen Ausprägung" der Dogmen hat aber wesentlich die scholastische Philosophie beigetragen, in der Intellektualismus bzw. Rationalismus eine große Rolle spielt. "Wer kann bestreiten, daß wir heutzutage Dogmen definiert haben in Formeln, die der mittelalterlichen Philosophie entstammen?" fragte 1919 ein katholischer Seelsorger und Rellgionslehrer.

Hessens Philosophie und sein Kampf um eine 11voraussetzungslose wissenschaftliche Philosophie«, wie oben aus dem Philosophenlexikon "Ziege'nfuß" zitiert wurde, haben ihm oft schwere Stunden bereitet. So wäre schon Hessens Habilltation bei Max Scheler gescheitert, wenn sich nicht der Dekan der Philosophischen Fakultät in Köln, der Historiker Spahn, für ihn eingesetzt hätte. Diesem wiederum war Hessen vom späteren Reichskanzler Brüning empfohlen worden.

Noch schlimmer kam es 1928, als zwei seiner Bücher "Die Weltanschauung des Thomas von Aquin" und "Erkenntnistheorie", ein später sogar ins Spanische übersetztes Werk, von den Bischöfen in Köln und Münster verboten wurden. Dem Verbot folgte dann bald die Suspendierung als außerordentlicher Professor durch den damaligen Kardinal Schulte. Beide Maßnahmen ließen sich jedoch nicht aufrechterhalten, nicht zuletzt.

Es ist gewiß zu weit gegangen, wenn 1950 der Greifswalder Professor Jacoby behauptete, daß die Verweigerung der Wiedergutmachung dadurch zu erklären sei, daß Hessen als katholischer Priester eine augustinische Theologie der herrschenden thomistischen vorziehe. Es dürfte andererseits aber auch verständlich sein, daß Hessen bei den Amtspersonen der Kirche keine Unterstützung fand und es deshalb den restaurativen Kräften an der Universität Köln, insbesondere ehemaligen Parteigenossen, leicht gemacht wurde, mit allen möglichen Vorwänden seine Rehabilltation zu verhindern. Wenn zur Zeit die Versuche immer zahlreicher werden, die Geschichte der Nachkriegszeit zu schreiben, sollte auch anhand des Falles Hessen einmal untersucht werden, wie groß der Einfluß der rcstaurativen Kräfte, die Hessen als Neonazisten bezeichnete, wirklich war. War es so, wie der katholische Pfarrer Peter Wilhelm Roth, ein Vetter des ehemaligen Lobbericher Gyrrinasiallehrers Rotb, in der Fcstschrift für Hessen zum 80. Geburtstag behauptete, daß Hessen in "diese Restauration, die die ungen-leinen Hoffnungen der Kriegsjahre einfach beiseite schob und die es vor allem gar nicht nötig erscheinen ließ, daß die Wertewelt neu interpretiert und bezeugt werden mußte", wiederum nicht paßte"? (2)

(2) Hessen sieht letztlich den Gegenstand des Philosophierens in der Frage nach dem Sinn des Lebens, wie ihn auch seine großen Vorbilder Plato, Augustin und Scheler verstanden haben. Er ist zu sehr Theologe und gläubiger Mensch, als daß er diese Frage nicht von der Theologie her beantwortet. Den Sinn des Lebens sieht er im Erfahren und im Vergegenwärtigen der Frohbotschaft. Die philosophische Aufgabe besteht für ihn vorrang ig darin, den "Inhalt des Göttlichen" wissenschaftlich zu fundieren.

Hessen ging es aber nicht nur uni die Erkenntnis der Wahrheit. Er ist auch ihr Bekenner, ja sogar ein Märtyrer dieser von ihm erkannten Wahrheit. Er hat sie mit solcher Entschiedenheit vertreten, daß er - wen wundert es - von den Nazis bald als ihr Gegner erkannt wurde. Er hat diese Gegnerschaft geradezu herausgefordert, wenn er im Schlußwort seiner 1937 erschienenen "Wertphilosophie" schrieb, daß der Kampf gegen eine Denkweise, die "den Geist und das Geistige entrechtet, den Blos auf den Thron erhebt und den Menschen auflöst in einen Komplex vital-biologischer Faktoren", eine "Pflicht gerade der deutschen Philosophie" sei.

Hessen hat mit seiner Haltung nicht nur die Vertreter der brutalen Macht, sondern auch seine theologischen Arritsbrüder und seine Kollegen in der philosophischeu Zunft herausgefordert: indem er das von ihm als richtig Erkannte apodiktisch vertrat und sich nicht scheute, den Andersnicinenden direkt anzugreifen, aber ohne ihn zu verletzen, nur die Sache sehend. Diese apodiktische Art des Urtellens, die vielleicht manchem auch etwas selbstgerecht erscheinen inag, aber seiner aufrechten unbedingten Haltung entsprang, hat ihm gewiß zahlreiche Feinde verschafft. Das erschwerte ihm sicherlich das Fortkommen und nach dern Krieg auch die "Wiedergutmachung". Er selbst spürte es beizeiten, denn in seinem Nachruf auf den erwähnten Theologen Rademacher im Jahre 1939 hat er das ausgesprochen, was er wohl auch von sich behaupten durfte: "Er setzte sich für Wahrh eit und Gerechtlikeit ein, auch wenn er damit seinen kirchlichen Ruf gefährdete und den berufenen und unberufenen Zionswächtern als Freund der Zöllner und Sünder' erschien. Er zählte nicht zu jenen fragwürdigen theologischen Kathedergestalten, die zwar theoretisch einen Pragmatismus mit souveräner Geste ablehnen, praktisch aber die schlimmsten Pragmatisten und Opportunisten sind, indem ihr oberster Gesichtspunkt bei ihrem Reden und Schreiben die Rücksicht auf ihren Ruf, ihr Fortkommen und ihre Laufbahn ist. Er gehörte nicht zu jenen Leuten, von denen Schopenhauer treffend bemerkt, daß sie das Wort Wahrheit' ständig im Munde führen, dabei aber ihr Auge stets auf die Intentionen ihrer höchsten Vorgesetzten gerichtet halten."

Die Haltung der Kirche gegenüber Hessen hat sich jedoch in den späteren Jahren geändert. Dies zeigte sich in der Ernennung zum Päpstlichen Ehrenprälaten durch Papst Paul Vl. im Jahre 1969. Diese Ernennung veranlaßte Hessen zu einem humorvollen Brief an den Lobbericher Zahnarzt und früheren Vizebürgermeister Dr. Weber, der mit den Worten begann: "In der Kirche Gottes geschehen auch heute noch Zeichen und Wunder. Das beweist die Tatsache, daß Papst Paul Vl. einen "Ketzer" aus Anlaß seines 80. Geburtstages zum Päpstlichen Hausprälaten ernannt hat . . ."

Seine philosophische Leistung - ein Beispiel

Hessens Leistungen von Rang stellen seine Wertphilosophie und seine Religionsphilosophie dar. Die Rellgionsphilosophie setzt die moderne Wertphilosophie voraus, eine der großen philosophischen Leistungen unserer Zeit, zu der Hessen einen namhaften Beitrag geleistet hat. Ein bedeutsames Tellgebiet dieser Lehre, die Wertethil-, sei im folgenden in den Grundzügen dargestellt. Diese Darstellung knüpft all die philosophischen Darstellungen im obigen Abschnitt "Mögliche Gründe für die Verweigerung der Wiedergutmachung" an. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß Hessen in der Darstellung der Wertlehre und der Ethik zwar fast durchweg Elemente benutzt, die andere schon vorgedacht haben. Nur fügt er sie zu einem Ganzen zusammen, das dadurch einen Charakter bewundernswürdiger Geschlossenheit erfährt.

In der hier stark verkürzten Darstellung der Ethik als Teil der modernen Wertphilosophie sei von Kants kategorischem imperativ ausgegangen: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«'

Beim aufmerksamen Lesen dieser Forderung erkennt man,

(a) daß es hier nicht auf die Erfahrung ankommt, sondern die Handlung als solche entscheidend ist (deshalb keine Erfolgsethik);

(b) daß die "Maxime des Willens" nicht mit objektiven Gegebenheiten - Sein oder Werten -, sondern mit sich selbst übereinstimmen muß. Kants Sittengesetz stammt deshalb nicht aus dem Sein, sondern aus der Vernunft. Es ist ein formales Gesetz;

(c) daß gesetzmäßiges, d. h. allgemein gültiges Handeln verlangt wird, wobei das Sittliche darin besteht, daß ich mich immer fragen soll, ob es angehen kann, daß alle so handeln; z. B. was würde geschehen, wenn alle lügen. Die Sittlichkeit ist ein Sollen, sie wird mittels der Forderung: Handle gesetzmäßig! zur Pflicht erhoben.

Ein solches Handeln ist nur möglich, wenn vom Inhalt abgesehen wird, damit sich nicht Neigungen und Triebe im Menschen regen und die Handlung nicht um ihrer selbst, sondern um der Wirkung willen vorgenommen wird. Dies hat Schiller zu dem spöttischen Vers veranlaßt: "Gern dient' ich den Freunden, doch tu' ich's leider mit Neigung. Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin."

Die Kantsche Pflichtethik wurde im Verlauf dieses Jahrhunderts zunehmend kritisiert. Die Neuscholastiker bemängelten insbesondere, daß diese Sittenlehre eine von Gott und Religion unabhängige Moral sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen viele in ihr die Ursache für die Pervertierung des preußischen Pflichtgedankens im Wilhelminischen Staat und besonders im Hitlerstaat. Mit konstruktiver Kritik reagierten auf diese Pflichtethik fast leidenschaftlich Max Scheler, indem er sie neu durchdachte, sowie Nicolai Hartmann. Dabei wurde die unter a) genannte These als unbestritten richtig anerkannt, war sie doch entscheidend eine Reaktion Kants auf den Eudämonismus, auf die reine Erfolgsethik, die die Glückseligkeit zum Prinzip der Moral macht. Schelers Angriffspunkte in seinem erwähnten Werk "Der Fortnalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" (1919) waren vielmehr die zu b) und c) genannten Thesen.

Zu b): Dem Formalismus Kants setzen die modernen Wertphilosophen entgegen, daß sittlichem Handeln objektive Werte zugrunde liegen. Alles Sollen muß in Werten fundiert sein. Wichtig ist dabei der Gedanke, daß die Wertordnung eine gegenüber der Seinsordnung eigenständige Sphäre ist und nicht, wie die Scholastik lehrte, Sein und Wert eins sind (ornne ens est bonum). Dies löst das Problem, daß die Gegenstände auch Träger von Unwerten sein können, während der scholastische Satz "omne ens est bonum" den Unwert ausschließt. Damit ist auch - was für Hessen wichtig war - die Verbindung zum christlichen Platonismus hergestellt, denn Platos Ideenwelt ist im Grunde Wertwelt, zu unterscheiden von der Welt der gegenständlichen Dinge.

Auch hinsichtlich der Erkenntnis der Werte erteilen Scheler, Hartmann und Hessen eine eindeutige Absage an Kants formale Ethik. Der Formalismus beinhaltet einen Rationalismus, wenn nicht objektive Werte, sondern die übereinstimmung mit den Gesetzen der Vernunft die Maxime des Handelns sind. Indem mit Hilfe des kategorischen Imperativs entschieden wird, ob man so und nicht anders handeln kann, handelt es sich um ein verstandesmäßiges Vorgehen. Wie erkenne ich aber die dem sittlichen Handeln zugrunde liegenden Werte? Die auf Scheler fußende Wertphilosophie lehnt im Gegensatz zur Neuscholastik ein intellektualistisches Erfassen der Werte ab, sondern Werte werden mittels des Wertgefühls, des "intentionalen Fühlens" erkannt. Werte sind auf ein Subjekt bezogen, das ein Organ für das Erfassen von Werten besitzt, wie das Auge oder das Ohr für das Erkennen von Farben bzw. Tönen da ist. Die verstandesmäßige Reflexion wirkt bei der Wetterkenntnis mit, aber maßgebend ist die spontane Erfassung im Gefühlsakt. Diese Art der Werterkenntnis ist für Hessens Philosophieren, insbesondere in seinen religionsphilosophischen Schriften, von größter Wichtigkeit. Vermag sie ihm doch einen Zugang zu den Werten des Heiligen auf eine Weise zu ermöglichen, die nicht den Glaubensakt voraussetzt, sondern diesen mittels der intuitiven Werterkenntnis veranschaulichen kann.

Zu c): Mit der Erkenntnis der sittlichen Werte ist aber noch nicht das sittliche Handeln gegeben. Dieses kommt nach Scheler erst durch das Vorziehen des höheren Wertes gegenüber einem anderen nachzusetzenden Wert zustande, wobei der Akt des Vorziehens durch das Sollen bestimmt wird, das den ethischen Werten anhaftet. Dieses Sollen wird aber von Scheler nicht im Sinne einer Pflicht interpretiert. Als Reaktion auf Kant gibt Scheler den Pflichtgedanken völlig preis. Hier schlägt nun Hessen die Brücke zu Kant. Er will den von Kant sehr herausgestellten Gedanken der Verpflichtung des Sittlichen retten. Er tut es, indem er auch den personalistischeu Charakter der Werte unterstreicht. Wert ist stets Wert für lemanden, wie umgekehrt die Wirklichkeit auf die Werte "angelegt" ist. Das vom Wert ausgehende Sollen stellt sich deshalb auch als Forderung des Wertes an uns dar.

Hessen kann so argumentieren, da er die Werte nicht als ein "an sich Selendes« sieht, nicht wie Hartmann die Geschiedenheit von Wert und Wirklichkeit behauptet, sondern die Verschiedenheit, Dies will besagen. die Werte sind etwas Eigenständiges, aber als ideales Seiendes" auch etwas Abstraktes, das der Ergänzung durch die Wirklichkeit bedarf. Der verwirklichte Wert ist erst der volle Wert. Man könnte hier nicinen, daß sich diese Betrachtung kaum von der scholastischen Auffassung, wonach Wert und Sein zusammenfallen, unterscheidet. Daß dies nicht so ist, erkennt man jedoch, indem man sich klarmacht, daß der verwirklichte Wert an einem Gegenstand existiert, der damit ein Wertträger wird. Der Gegenstand, z. B. ein Gemälde, könnte vernichtet werden. Damit wird aber der (in diesem Fall) ästhetische Wert nicht betroffen. "So wenig die Farbe Blau rot wird, wenn sich eine blaue Kugel rot färbt, so wenig werden die Werte und ihre Ordnung dadurch tangiert, daß sich ihre Träger im Wert ändern", veranschaulicht Scheler diesen Gedanken.

Das schließt, wie gesagt, nicht aus, daß Wert und Wirklichkeit in engster Beziehung zueinander stehen, daß Werte für jemanden da sind, wie auch das vom Wert ausgehende Sollen eine Forderung an jemanden ist.

Aber es fehlt noch ein letztes, das Gebäude einer modernen Wertethik abzurunden: die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Religion. Die von Nicolai Hartmann behauptete Antinomie, der unauflösbare Widerspruch zwischen Ethik und Religion, wollte der Philosoph Hessen, der in gleichem Maße Theologe war, offenbar nicht einfach hinnehmen. Schließlich diente sein ganzes Philosophieren letztlich dem religiösen Glauben. Andererseits konnte er eine heteronome Moral, wonach das Sittengesetz Ausfluß des göttlichen Willens ist, nicht akzeptieren; hätte dies doch bedeutet, daß die Ethik nicht eigenständig, nicht auf sich selbst, sondern auf etwas anderes, auf Gott gestellt wäre. Wie so oft fand Hessen in einem mittleren Weg eine befriedigende Lösung, ohne daß er unwissenschaftliche Kompromisse einging. Die Lösung, stichwortartig wiedergegeben, heißt: der Mensch ist in seinem Dasein seinsbezogen, aber auch wertbezogen. Darüber hinaus ist er gottbezogen. Gott ist aber Wert und Sein. So ist das Ethische letztlich Ausfluß des göttlichen Wesens (nicht Willens). Dies berührt nicht die Eigenständigkeit der ethischen Wertordnung, wie auch umgekehrt das Religiöse eine Wertordnung eigener Art darstellt.

Damit nicht der Eindruck erweckt wird, als sei dies eine im begrifflichen Wege zurechtgeschneiderte Argumentation, soll abschließend kurz die Methode erwähnt werden, die Hessen ebenso wie die modernen Wertphilosophen anwendet: die phänomenologische Methode, die sich ausschließlich am Phänomen orientiert, es in seinem Wesen zu erfassen sucht, d. h. in seinem Inhalt, seiner Wirkung und in seinem Verhältnis zu anderen Phänomenen. Mit Hilfe dieser Methode konnte aufgezeigt werden, daß die Ineinssetzung von Sein und Wert oder die Verquickung von Religion und Philosophie unzutreffend ist. Die extrem entgegengesetzte Methode ist die aprioristische, die von feststehenden Begriffen ausgeht.

Es kommt bei der phänomenologischen Methode darauf an, wie der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, bemerkt, das zu "Erschauende, statt es umzudenken, eben hinzunehmen wie es sich selbst gibt, und es ehrlich zu beschreiben". Diese Methode, redlich angewandt, hat Philosophen wie Scheler, Hartmann, Hessen, den Rellgionsphilosophen und protestantischen Theologen Rudolf Otto, vor allem aber Heidegger zu ihren großen Leistungen befähigt. Aber auch Dichter wie Rilke dürften von ihr beeinflußt gewesen sein.


Gruppenaufnahme vor dem Hessenhof anlässlich des goldenen Prieserjübiläums im Jahre 1964.
Sitzend in der Mitte Professor Hessen, rechts daneben neben ihm sein Bruder, links neben ihm Dechant Werth, 2. v.l. der damalige Bürgermeister von Lobberich, H. Nicus

Kurze Würdigung

Dies ist als kleiner Versuch zu verstehen, das Werk eines Mannes zu charakterisieren, der unerschütterlich und unermüdlich seine "geistigen Kämpfe" ausgetragen hat; der in einer Zeit des Zweifelns, der Verunsicherung, in der die Technologie dem Menschen zu entgleiten und sich somit gegen ihn zu wenden droht, noch einmal die tragenden Gedanken der abendländischen Philosophie beschwört.

Vieles verdiente noch dargestellt zu werden, vor allem seine bereits erwähnte Rellgionsphilosophie oder seine intensiven Bemühungen um die UNA Sancta, die ihn zu der Schrift "Luther in katholischer Sicht" veranlaßt haben, seine religiösen Schriften und seine geistesgeschichtlichen Untersuchungen über die antike und biblische geistige Welt. Das Buch "Platonismus und Prophetismus", das sich mit diesem Thema befaßt, sieht der erwähnte Waldnieler Theologe und Pädagoge Besgen als Hessens "reifstes und bestes" Buch an.

Welche Wirkung Hessens philosophische und schriftstellerische Leistung auf die Nachwelt haben werden, ist heute noch nicht zu erfassen. Die gegenwärtigen Hauptströmungen der Philosophie beschäftigen sich mit anderen Themen als mit denen der Werte. Hessens Werk wird aber schon deshalb Bestand haben, weil er ein leidenschaftlicher Verfechter der von ihm erkannten Wahrheit gewesen ist und der Atem seines unbestechlichen Ringens um die Wahrheit und Anerkennung einer Welt der geistigen Werte in seinen Werken zu spüren ist. "Veritati" - der Wahrheit

verbunden, heißt mit Recht der Titel der Festschrift zur Vollendung seines 60. Geburtstages - ein Kämpfer für die Wahrheit in seinen Schriften und in seinen Taten, ganz besonders in einer Zeit, als "die Philosophen schwiegen, wo gerade sie hätten reden müssen" (Falkenhahn in seinem Geleitwort zur genannten Festschrift).

Am 2. September 1971, im 82. Lebensjahr, starb Hessen. Er wurde in Agidienberg im Siebengebirge beerdigt, wohin er sich im Kriege nach dem Redeverbot durch die Nazis zurückgezogen hatte. Die heimische Presse widmete ihm ausführliche Nachrufe. Zuvor, zur Vollendung seines 80. Lebensjahres im Jahre 1969, war er von dem Nikolaus-von-Cues-Institut in Köln in einer "Festakademle", an der auch Kardinal Frings teilnahm, geehrt worden. An dieser Ehrung wirkten vor allem zwei Männer aus seiner engeren niederrheinischen Heimat mit: der ehemalige Vizebürgermeister von Lobberich, Dr. Weber, der die Grüße der Vaterstadt des Philosophen überbrachte, sowie der Leiter des Waldnieler Gymnasiums, Dr. Besgen. Letzterer würdigte in einem einfühlenden Referat, das auch den Beifall des K ardinals Frings fand, das Werk Hessens und lotete dessen philosophischen und theologischen Standort aus. Dieses Ereignis, vor allem aber die erwähnte späte Ernennung Hessens zum Päpstlichen Ehrenprälaten haben im Grunde bestätigt, wie dieser Mann seiner Zeit voraus war.

AUS DEM SCHRIFTTUM HESSENS

1. Zur Philosophiegeschichte

  • Platonismus und Prophetismus. München 1939, Verlag E. Reinhardt. 240 Seiten. 2. Aufl. 1955.

  • Augustinus Metaphysik der Erkenntnis. Berlin und Bonn 1931, Verlag F. Dümmler. 328 Seiten. (Zusammenfassung und Neubearbeitung der Augustinus-Arbeiten.) 2. Aufl. Leiden 1960, Verl. Brill.

  • Griechische oder biblische Theologie? 180 Seiten. 2. Auf]. München 1960, Verlag E. Reinhardt. Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel eines Lebens. Nürnberg 1959, Verlag Glock und Lutz. 280 Seiten.

2. Zur systematischen Philosophie

  • Der Sinn des Lebens. 5. Auflage Steyler Verlag St. Augustin 1968.

  • Lehrbuch der Philosophie. Verlag E. Reinhardt, München.

    I. Band: Wissenschaftslehre. 316 Seiten. 3. Aufl. 1964.
    II. Band: Wertiehre. 300 Seiten. 2. Aufl. 1959.
    III. Band: Wirklichkeitslehre. 372 Seiten. 2. Aufl. 1962.

  • Religionsphilosophie. 2. Aufl. München 1955. Verlag E. Reinhardt.

    1. Band: Methoden und Gestalten der Religionsphilosophie. 306 Seiten.
    II. Band: System der Religionsphilosophie. 338 Seiten.

3. Religiöse Schriften

  • Unser Vater. 10. Aufl. Steyler Verlag, St. Augustin 1967. 56 Seiten,

  • Briefe an Suchende, Irrende, Leidende, 3. Aufl. Steyler Verlag, St. Augustin 1965. 115 Seiten.

  • Luther in katholischer Sicht. 2. Aufl., Verlag L, Röhrscheid, Bonn 1949. 71 Seiten.


Anmerkungen

(1) Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel eines Lebens, Nürnberg 1959.

(2) Peter Wilhelm ROTH "Leben und Werk Johannes Hessens", in: Die Rolle der Werte im Leben. Festschrift für Johannes Hessen zu seinem 80. Geburtstag. Köln 1969.


Quelle: Heimatbuch des Kreises Viersen 1977, Viersen 1976, S.119-131.

Die Veröffentlichung  an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E 1-47 12 43)

Der Artikel wurde in alter Rechtschreibung belassen


Johannes Hessen

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 "Leute" aus Lobberich

Link Heimatbuchartikel über Lobberich

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