Lobbericher Allerlei

Aufgetischt nach einem halben Jahrhundert von Heribert Teggers, Goch


„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können."

Da ich jung war, begriff ich diesen Satz nicht in seiner tiefsten Tiefe. Heute weiß ich, daß er stimmt. Vor einem halben Jahrhundert verließ ich die Seenstadt und sah sie nur in den Ferien wieder. Was ist seitdem nicht alles geschehen! Aber sonderbar — immer, wenn irgendwo ihr Name aufklingt, bringt er mir schmunzelnd ein Stück Alt-Lobberich in die Erinnerung, lautlos fast wie auf Plüschpantoffeln. Und jedesmal ist ein Stücklein Romantik dabei, das die zerrissene Zeit heute nicht mehr zu geben vermag. In diesen Augenblicken stehen jene wieder auf, die nicht mehr sind, kaum noch da sein können, und die dem Leben doch immer die beste Seite abzugewinnen wußten! Lobbericher von echtem Schrot und Korn, mit einem gutmütigen, wenn auch oft eigenwilligen Herzen, mit rauher Schale, aber immer mit einem goldenen Kern.

Der Postbeflissene

Matthias Heusen (vielleicht stimmt der Vorname nicht) war Briefträger in der guten alten Zeit. Niemand trieb ihn, und das Wort „Eile" stand nicht in seinem postalischen Lexikon. Außer ihm gab es höchstens noch zwei in dieser Sparte. Und da damals kein Krieg und die Steuerbehörde in ihren Forderungen sehr zurückhaltend war, bedeuteten die drei Träger für die Bürger Lobberichs so etwas wie Glücksbringer, die überall gern gesehen an den Türen ihr Schwätzchen hielten, zu mancher Tasse Kaffee eingeladen waren und den Inhalt jeder Post- und Ansichtskarte ausgiebig kannten. Natürlich gab es auch Bürger, vor allem solche, die mit Geschäften etwas zu tun hatten, die morgens einige Male vor die Haustür gingen, ob denn der Postbote immer noch nicht ... Und zu diesen gehörte auch mein Vater. „Heusen, dese Morje sett ör äwer wär ärg lat an losem!"

Mit gewissem Nachdruck und einer Art stillem Vorwurf wurden diese Worte gegeben, die Heusen aber mit schmunzelndem Gesicht entgegennahm, sein subtilstes Lächeln zeigte und dann erwiderte: „Wenn ör et jauer könnt, Herr Teggersch, dann meld öch mar bej de Post!"

Sprach's und nahm seinen Dienstweg wieder gemächlich unter die Beine. Ein Telegramm war damals eine weltbewegende Angelegenheit. Die Klingel der Haustür schrillte morgens gegen einhalb sieben Uhr und warf meinen Vater aus den Federn (Daunen hatten wir nicht). Notdürftig angekleidet öffnete er..Stark verschlafen, mit dunstumflortem Antlitz, stand Matthias Heusen vor ihm.

"Ech hab en Telegramm vör öch, Herr Teggersch!" brachte er zur Entschuldigung seines frühen Auftrittes vor und kramte umständlich in der abgegriffenen Ledertasche, die an einem Riemen um seine Schulter hing. Dann aber schüttelte er mehrmals, nicht begreifend und nicht verstehend, den Kopf, schaute meinen Vater mit kregelen Äuglein an und meinte schließlich: „Et es äver doa — dann mot ech et an de Post lägge geloaten habe!"

Der Unterschied

Heinrich op de Kamp — da steht er leibhaftig vor mir! Metzger, Hausschlächter und Viehhändler in einer Person, kurzgedrungener Oberbau, stämmige Beine, Ledergamaschen um die Waden, Holzschuhe (im Winter mit Strohpackung) an den Füßen, in der Hand den Metzgerstock in Speck und Glut gebrannt, im Lederköcher Wetzstahl und, Schlächtermesser — so traf ich ihn schon als Junge zwischen den Feldern von Dyck, Sassenfeld und Maarfeld.

Dieser Heinrich op de Kamp traf morgens mit meinem Vater auf dem „Grünen Weg" zusammen, wo er die Vogelmiere, die sich unter einer Hecke sehr breit machte, eingehend betrachtete. „Kenns dou den Ongersched tösche mir on mich, Matthes?"

Die Frage gab er an Stelle eines Morgengrußes meinem Vater. Und als der verneinte, richtig aber irgendeine Schalkheit vermutete, schaute Heinrich ihn plötzlich durchdringend an, wies mit dem Metzgerstock auf die üppig, wuchernde Vogelmiere und sagte:

„Mir (Vogelmiere) frett de Karnarievougel, on mech kannste..."

Das Fleischverbot

Hier muß ich den Namen des Fleischlüsternen leider schuldig bleiben. Er ist mir entfallen. Tatsache aber ist, es gab einen in Lobberich. Ich sehe ihn deutlich vor mir: untersetzt, hageres Gesicht, goldgefaßte Brille, Harmonikahose und Spazierstock mit silberner Krücke. Ausgestattet, wie mein Vater mir versicherte, mit einem stets guten Sinn, der nur an jedem Freitag fehlte. Da durfte er als Katholik kein Fleisch essen, und Fleisch aß er doch für sein Leben gern. Gebote aber haben ihre Lücken. Man muß sie nur finden. Und unser Fleischlüsterner fand eine solche Lücke. Im Beichtstuhl hatte er sich gewissenhaft versichert, daß man auf Reisen auch freitags dem Fleisdigenuß frönen dürfe. Und hier sah er jene Lücke, durch die man ungestraft und unbelastet hindurchschlüpfen konnte. Wohlweislich hatte er vergessen, sich zu erkundigen, wie weit die Reise gehen müsse, um dem Abstinenzgebot nicht in die Quere zu kommen, Und so reiste unser Freund an jedem Freitag zu Fuß nach Hinsbeck und Schliebeck, und wenn er unterwegs en das große Schinkenbutterbrot zu fünfundzwanzig Pfennigen dachte, dann lief ihm schon hinter dem Bahnübergang das Wasser im Munde zusammen. Woraus zu ersehen, daß die Auslegung einer Sache alles ist!

Drej moal in Mülheim

Man war zum Sängerwettstreit ausgefahren wenn ich mich recht entsinne, nach Godesberg — und hatte den ersten Preis errungen. Wenn Sänger auf Wettstreiten Preise erringen, können sie nachher meist nicht mehr singen. Was dann noch gröhlt, das ist der Alkohol. Trotzdem bietet der Empfang in der Heimat ein grandioses Schauspiel. So damals wie heute. Ein Telegramm hatte den Sieg der Sänger in die Seenstadt getragen. Am Bahnhof ward in aller Eile ein Triumphbogen errichtet, und vor der Sperre jubelten die Sängerfrauen, als das Züglein mit der asthmatischen Lokomotive endlich einlief. Begeisterte Rede des Bürgermeisters, Zylinderschwenken der Gemeinderatsmitglieder, vielstimmiges Hurrarufen, glückselige Umarmungen von Sänger und Sängerfrau. Nur eine einzige stand, bitterlich weinend, abseits und wollte sich durchaus nicht trösten lassen. Ihr Mann, ein großer Sänger und Zecher, war nicht im Zuge, war nicht mit heimgekehrt, war verlorengegangen. Ja, und eben dieser große Sänger und Zecher ... hieß er nicht Wilhelm Winz?

Als am nächsten Tage, einem Montag, ein Lobbericher auf Geschäftsreise im Kölner Hauptbahnhof den Zug nach Krefeld erwartete, stürzte plötzlich ein ihm bekanntes wenn auch verstörtes Gesicht in seine Arme und meinte: „Sääk, set ör net van Lobberick.?" Und da der Befragte bejahte, bat jener weiter: „Dann set doch sou joat, an nemmt meck möt! Ech bön all drej moal en Mülheim jewäß!"

Die Kenntnis der Zugrichtungen war damals eben bedeutend schwieriger als heutzutage, zumal für einen versprengten Sänger.

Das Ehrenmitglied

Er hieß Wilhelm und war von Beruf Bäcker, ein kräftiger, vierschrötiger Mann mit einer Bärenstimme. Ich habe ihn selbst als Junge in der Kirche des öfteren erlebt, wie er auf die Ehrenmitgliedschaft (ich weiß nicht mehr welche) pochte und sie allen Umsitzenden laut kundtat. Es ging sich um den Groschen Platzmiete in der Bank, der von allen, sobald der Teller die Runde machte, unaufgefordert und ohne Murren entrichtet wurde. Nur Wilhelm tat es nicht. Sobald ihm der Teller vor die Nase gehalten wurde, schaute er kurz von seinem Gebetbuch auf, vereinigte alsdann Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zu einer Dreiheit, klopfte damit energisch auf den glänzenden Tellerboden und sagte laut und vernehmlich nur das eine Wort: „Ehrenmitglied!" Einen Groschen hat er nie gezahlt.

Gute Nacht, Herr Pastor

Der diese Worte übertrieben deutlich immer dann sprach, wenn er ein Alibi brauchte, hatte in Lobberich eine Druckerei. Eduard Peters war ein geselliger Mann und wußte als Verleger einer Zeitung mehr als gewöhnliche Sterbliche.

Deshalb sah man ihn auch gern am Stammtisch. Man konnte stets etwas Neues erfahren. Nun hat so ein Stammtisch seine besonderen Eigenheiten, deren schlimmste das „Kleben" ist. Und Eduard klebte gern. Zu dumm nur, daß seine Frau im ehelichen Zimmer an der Straße schlief und das noch bei stets geöffnetem Fenster, das jeden hallenden und verhaltenden Schritt von der meist mäuschenstillen Straße an ihr empfängliches Ohr trug. Das war für Eduard eine verteufelte Angelegenheit, die alleräußerste Vorsicht gebot. Das Alibi war's und nur das Alibi! Eduard, gewitzt und verschlagen, beschaffte es sich im Bedarfsfall auf seine besondere Art. Sein Zechgenosse, dessen Ehefrau weniger nach der späten Heimkehr ihres Mannes fragte, mußte die Stelle des Pastors einnehmen, unseren Verleger bis an die Haustür auf den Markt bringen und mit warmer, gütiger und etwas sonorer Stimme sprechen: „Gute Nacht, Herr Peters! Schlafen Sie gut — und einen schönen Gruß an Ihre liebe Frau!" Darauf erwiderte Eduard ebenso warm und gütig und mit andächtiger Betonung: „Danke, Herr Pastor, und ebenfalls angenehme Ruhe. Es war ein interessanter Abend!"

Hämke met Suurmus

Es war stets eine hochfeierliche Angelegenheit, im Lobbericher Cäcilienchor die Speisenfolge des alljährlichen Festessens zu beraten, zu diskutieren und zu beschließen. Man hielt nichts von den sogenannten Vorarbeiten einer engeren Kommission. Überdies wollte ein jeder an dem Vorgenuß teilhaben, eine ausgesuchteSpeisenfolge in lukullischer Verzückung dem genußsüchtigen Magen anzubieten und zu Hause der Familie das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

So saßen denn wieder einmal die Cäcilienjünger an langen Tischen und hörten sich die Vorschläge der einzelnen Kenner an — Kenner insofern, als sie geschäftlich oft verreisten und die Speisenkarten der vornehmen Hotels hier und da einsahen. Und dann folgten Vorschläge — Gegenvorschläge — Beanstandungen glatte Ablehnungen — Konzessionen. Nach einstündiger Beratung einigte man sich schließlich auf folgenden Speisezettel:

  • Rindfleischsuppe mit Bällkes

  • Rindfleisch mit Gurkensalat

  • Gekochten Schinken mit Spargel

  • Schweinebraten mit Rotkohl

  • Vanille-Pudding mit Himbeertunke.

Am quergestellten Vorstandstisch saß der Ehrenpräsident Istas Phillibert, den dicke Wolken grau-weißen Qualms aus seiner Stockpfeife umhüllten wie Nebelschwaden auf niederrheinischen Wiesen die Kopfweiden gespensterhaft umkreisen. Phillibert war taub, wußte aber worum es ging und vermutete bei dem lauten Aaah, daß man die Speisenfolge nunmehr endgültig habe. Bedächtig nahm er die Stockpfeife aus dem Mund, wandte sich langsam seinem Nachbarn zu und meinte: „Wat gevt et dann, Jousep?" Den Josef stach der Hafer. Er formte beide Hände zu einer Muschel und tutete dem Tauben ins Ohr: „Hämke met Suurmus!" Da aber sprang Phillibert auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief dem Präsidenten zu: „Es dat dann en Cäcilienäte, Hämke met Suurmus! Scham deck jett!" Erst das anhebende große Gelächter ließ ihn ahnen, daß er das Opfer einer Irreführung geworden war. Das brachte ihn derart in Wut, daß er seine Stockpfeife kurzerhand auf dem Kopf des Täuschers in zwei respektable Stücke schlug. Nur dem Umstand, daß die Cäcilienkasse sich sofort bereiterklärte die Stockpfeife zu ersetzen, ist es zu danken gewesen, daß auch dieses Cäcilienessen sich in den gleichen friedlichen Bahnen vollzog wie eh und je.


Quelle: Heimatbuch 1959 des Kreises Kempen-Krefeld, Kempen 1958, S. 98f.
Die Ver öffentlichung  an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E 1-47 12 43)

Der Artikel wurde in alter Rechtschreibung belassen

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