Vergaser aus Lobberich

1945-2014


Pierburg und logo Rokal bauen Vergaser

Die Deutsche Vergaser-Gesellschaft (DVG) in Berlin lag 1945 in Trümmern, die Vermögenswerte waren von den Alliierten beschlagnahmt und ihr Leiter, Alfred Pierburg, ältester Sohn des Pierburg-Firmengründers Dr. Bernhard Pierburg, von der Führung des Unternehmens ausgeschlossen worden. Sein jüngerer Bruder, Dr. Kurt Pierburg, der den Bestrebungen Einzelner, sich die DVG anzueignen oder sie in Volkseigentum zu überführen, im Wege stand, wurde als SS-Standartenführer denunziert und verhaftet. Nach monatelanger Internierung und Untersuchung wurde er zu 25 Jahren Haft verurteilt, von denen er elf Jahre in der sowjetischen Strafanstalt Brandenburg/ Havel absaß. (...)

Die britische Besatzungsbehörde in Deutschland beauftragte die Firma Robert Kahrmann & Co. (Rokal) im niederrheinischen Lobberich, Solex-Vergaser und Kraftstoffpumpen herzustellen. Der Lizenzvertrag mit Solex – das eigentliche Kapital der Firma Pierburg – bestand jedoch unverändert fort. Ja, er wurde im Dezember 1945 sogar ausdrücklich verlängert und – nachdem die DVG für Pierburg vorerst verloren war – im Dezember 1946 auf Alfred Pierburg persönlich übertragen. Die Franzosen aus Neuilly ließen ihren deutschen Freund nicht im Stich. Sie hatten ihm nicht vergessen, dass er sie in seiner Funktion als Wehrwirtschaftsführer West während der Besatzungszeit weitgehend vor den Repressalien deutscher Dienststellen geschützt hatte.

Solex ermöglichte es Alfred Pierburg, in den Westen des besetzten deutschen Reiches zu kommen und sich in Neuss niederzulassen. (...) Außerdem bezog Alfred Pierburg die Firma Rokal in Lobberich in die Produktion von Vergasern und Brennstoffpumpen für die neue DVG ein und legalisierte damit diese Unterehmung auch lizenzvertragrechtlich. Zum Glück für viele frühere Mitarbeiter der Berliner DVG – diese hatten nach dem Zusammenbruch ihres Unternehmens unabhängig von Pierburg bei Rokal eine neue berufliche und private Heimat gefunden.

(...) Bedeutsame Neuentwicklungen kamen aus dem Hause Pierburg. Zu nennen wäre – um nur wenige Beispiele zu bringen – der Pierburg-Registervergaser vom Typ "Paita", der 1956 in Großserie ging. Er erfüllte als erster Vergaser die Forderung nach guter Gemischbildung im unteren Drehzahlbereich und hohen Gemischdurchsätzen bei voller Motorleistung. Bereits drei Jahre später, 1959, folgte mit dem PICT-Vergaser für VW der erste Vergaser mit Startautomatik – ein damaliges Spitzenprodukt deutscher Automotive-Fertigung. Unzählige Exemplare davon wurden im weltweiten Straßenverkehr eingesetzt, und zwar vor allem im legendären VW Käfer.


Der legendäre VW Käfer (1955 brachte die 1. Million)
fuhr stets mit Pierburg-Vergaser.

1972 folgte als technische Neuheit der Vierfach-Fallstrom-Doppelregister-Vergaser 4A1, der bei BMW, Daimler-Benz, Opel und – bis zum Baujahr 1987 – auch bei Rolls Royce zum Einsatz kam. Hierbei handelte es sich um eine neue Vergasergeneration, die sich durch geringe Bauhöhe, reduziertes Gewicht, universelle Verwendbarkeit für längs und quer gebaute Motoren, vereinfachte Montage sowie schrittweisen Aufbau einer Modultechnik auszeichnete. Es folgten die Serienfertigung des Register-Vergasers 2B (1974), des Einfach-Fallstrom-Vergasers 1B (1979) oder des Fallstrom-Registervergasers der Baureihe 2E (1982). Dessen Produktion wurde allerdings direkt zu Beginn plötzlich gestoppt durch Brandstiftung, durch die große Teile der modernen Fertigungsanlagen im Werk Nettetal zerstört wurden.

Nach vier Jahren Entwicklungsarbeit ging schließlich 1983 das von Bosch und Pierburg entwickelte mikroprozessor-geregelte Vergasersystem "Ecotronic" in Serie. Damit wurde ein Höhepunkt der Vergasertechnologie erreicht – und zugleich deren Ende. Der Ecotronic-Vergaser besaß eine intelligente Elektronik, die automatisch alle wichtigen Funktionen steuerte: Leerlaufregelung, vollautomatische Start- und Warmlaufkontrolle sowie integrierte Schubabschaltung. Das wichtigste Verkaufsargument war, dass die mit dem Ecotronic-Vergaser ausgestatteten Motoren die strengen US-Abgasgesetze einhielten. Aber schon von seinen Entwicklern wurde dieser Vergaser nur als Zwischenschritt zu einer neuartigen elektronischen Einspritzung gesehen, die den Vergaser selbst überflüssig machen sollte. (...)

Neben (...) (dem) bestehenden Neusser und Berliner Werken kam 1972 ein weiterer Standort hinzu: Rokal in Nettetal-Lobberich musste Konkurs anmelden. Die Pierburg Auto- und Luftfahrtgerätebau KG (APG) übernahm den Vergaserstandort mitsamt bestehender Druckgussgießerei und baute ihn erfolgreich zum dritten Pierburg-Produktionswerk aus.

All diese Investitionen kosteten Geld – mehr Geld, als Pierburg zur Verfügung stand. Und so brachte das Jahr 1972 neben dem Erwerb des Werkes Nettetal eine weitere epochemachende Veränderung in der Struktur der Pierburg-Werke, denn erstmals in seiner Geschichte musste die Familie fremde Gesellschafter aufnehmen: Die in Stuttgart ansässige Robert Bosch GmbH erwarb 20 Prozent der Anteile an der Pierburg-Gruppe – und einen bestimmenden Einfluss, der dem eines überragenden Mehrheitsgesellschafters entsprach.

Der Grund für dieses Phänomen ist in einem weiteren einschneidenden Ereignis in der Pierburg-Geschichte zu sehen. Am 3. April 1975 starb Alfred Pierburg, der sich seit 1963 auch mit dem Professorentitel e.h. der Technischen Hochschule Aachen hatte schmücken dürfen, im Alter von fast 72 Jahren. Zuvor, 1973, war bereits sein ältester Sohn Manfred, der ausersehene Erbe, mit nur knapp 33 Jahren an einer tückischen, unheilbaren Krankheit gestorben. Manfred Pierburg, seit 1970 Prokurist im väterlichen Unternehmen, hatte sich unter anderem um den Motorsport verdient gemacht und dem Namen des Unternehmens rund um Hockenheim, Nürburg oder Monte Carlo Glanz verliehen. Nun musste Jürgen Pierburg, der jüngere Sohn Alfred Pierburgs, relativ jung die Firma übernehmen. Kurz vor seinem Tod hatte der Vater einen Beraterkreis etabliert, an dessen Spitze der damalige Bosch-Chef Lutz Merkle stand. So hatte Bosch, auf dem Gebiet der zukunftsträchtigen Einspritzsysteme ein harter und mächtiger Konkurrent Pierburgs, ganz leichtes Spiel, die Ideen der Pierburg-Entwickler zu bremsen.

Zum Ende der siebziger Jahre machte das Vergasergeschäft bei Pierburg noch den stolzen Anteil von 61 Prozent aus.


Pierburg wurde nach 1945 zum zweitgrößten Vergaser-Hersteller Europas

(v.l.n.r.):
40 DDH-Vergaser für VW K 70, Vergaser der Baureihe 1B und 2E
für schadstoffarme Motorkonzepte und 34 PICT-3-Vergaser für VW.

27 Prozent verdiente das Unternehmen mit diversen Motorkomponenten (Kraftstoffpumpen, Einspritzsysteme, Magnetventile, Vakuumpumpen, Drosselklappenstutzen, Turbolader u.a.), dazu kamen Gießereiprodukte und Messtechnik-Erzeugnisse.

Es zeichnete sich bereits jetzt ab, dass der "klassische", mechanisch arbeitende Vergaser keine Zukunft mehr hatte und stattdessen elektronisch gesteuerte Einspritzanlagen zum Automobilstandard werden würden.

Dieser Markt wurde jedoch komplett von Bosch beherrscht, und dessen Chef Lutz Merkle war bemüht, "Konkurrenten von der fetten Weide der komplizierten Steuerelektronik und Präzisionsmetallteile für Einspritzsysteme fernzuhalten" – so die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 1986.

Der Beraterkreis wirkte sich auch – zum Nachteil des Unternehmens – auf die Führungskraft Jürgen Pierburgs selbst aus. Dazu kam, dass zum Zeitpunkt des Wechsels an der Spitze auch mehrere langjährige Manager und Spitzeningenieure wie der Vergaser-Entwicklungschef Martin Veigel in den Ruhestand gingen. Und der altgediente Vertriebschef Hubert Flohr, ein Schwager Alfred Pierburgs, erlag 1978 einem Herzanfall. Mit einem neuen Team gelang es dem jungen Unternehmenschef jedoch, in einem immer schwieriger werdenden Markt sein Unternehmen neu aufzustellen. Die wichtigste Veränderung merkte die Belegschaft bis hinein in die Spitzenpositionen: Der autoritäre Führungsstil Alfred Pierburgs war einem kollegialen Umgangston gewichen – sowohl innerhalb der Geschäftsführung als auch zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (diese waren deutlich in der Mehrzahl) am Band.

Auch gesellschaftsrechtlich gab es Veränderungen: Am Markt trat Pierburg nun mit einem einheitlichen Namen auf. Die Zuordnung der einzelnen Werke war mittlerweile recht unübersichtlich geworden: Automobilvergaser wurden in der Deutschen Vergaser-Gesellschaft, sowohl in Neuss als auch in Berlin, und bei der Pierburg Auto- und Luftfahrtgerätebau KG hergestellt, daneben gab es die Pallas Apparatebau GmbH und nicht zuletzt auch die Pierburg Luftfahrtgeräte Union. 1978 kam es zu einer notwendigen Vereinheitlichung des Firmengefüges unter dem Namen Pierburg. Lediglich die Deutsche Vergasergesellschaft in Berlin konnte sich dieser Konzentration (noch) entziehen.

Die Möglichkeit, dass Pierburg gemeinsam mit Siemens ein marktfähiges Konkurrenzprodukt zu Bosch auf dem Gebiet der elektronischen Einspritzung entwickelte, verhinderten die zahlreichen Bosch-Patente, die Lutz Merkle selbst dem langjährigen Partner nicht zur Verfügung stellte. Ohne Einspritzsysteme aber war Pierburg nicht überlebensfähig, der Vergaser war ein Auslaufprodukt geworden. Die Pierburg-Umsätze gingen seit einigen Jahren stetig zurück, das Unternehmen rutschte in die roten Zahlen, der Belegschaft musste Kurzarbeit verordnet werden. Nur die enge gesellschaftsrechtliche Verbindung mit einem großen Konzern konnte Pierburg die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, in vergaserunabhängige Produktbereiche der Schadstoffreduzierung, des Kraftstoffverbrauchs oder der Messtechnik zu diversifizieren – das Know-how dazu besaß Pierburg mit seinen fähigen Ingenieuren durchaus. Dass Bosch selbst den kleineren Konkurrenten übernahm, verbot das Bundeskartellamt. Als aber Pierburg sich mit dem Bosch-Konkurrenten Siemens gesellschaftsrechtlich verbinden wollte, verhinderte Bosch dies mit seinem vertraglich zugesicherten Veto-Recht. (...)


An dieser Stelle auszugsweise veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung
der Öffentlichkeitsabteilung der Fa Rheinmetall vom 17. April 2007


Geschichte(n) - auch aus anderen Quellen.

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